Am 1. Oktober 2024 fand vor dem Amtsgericht München eine denkwürdige Strafverhandlung wegen Beleidigung statt. Angeklagt war der Rechtsanwalt Dr. Rudolf King, der am 17.2.2024 während der Münchner Sicherheitskonferenz am Rande eines zum Frieden mahnenden Umzuges, in dessen Nähe er zufällig geraten war, einem Polizeibeamten mehrere Sekunden lang den ausgestreckten Mittelfinger gezeigt, ihn also nach § 185 StGB beleidigt haben soll.
Gegen den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft hatte King Einspruch eingelegt, so dass es zur mündlichen Verhandlung vor ca. 20 Zuschauern kam. Die junge Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft München I wurde von einer noch jüngeren Referendarin begleitet. Strafrichter war Richter am Amtsgericht Schmitt. Dr. King verteidigte sich selbst.
Insgesamt wurden fünf Polizeibeamte als Zeugen geladen und gehört. Drei waren bei dem Demonstrationszug vom Februar zur Beweissicherung bei etwaigen Straftaten dabei und gingen nahe einem Überwachungstransporter (Sprinter) mit einer vollständig ausgefahrenen und eingeschalteten Überwachungskamera vor den Versammlungsteilnehmern her.
Bevor der Strafrichter richtig eröffnen konnte, wurde schon ein Feststellungsantrag zur Unzuständigkeit des Richters gestellt. Denn King habe keine Einsicht in den Geschäftsverteilungsplan erhalten, sondern er wurde nur diverse Male und in unterschiedlicher Weise wiederholt vertröstet. Da dieser Anspruch aber grundrechtsgleich besteht, werde der Antrag gezwungenermaßen gestellt.
Der Geschäftsverteilungsplan eines Gerichts dient der Wahrung der verfassungsrechtlichen Garantie des so genannten „gesetzlichen Richters“ nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden). Danach muss die Zuständigkeit der jeweiligen Richter bzw. Spruchkörper (Kammern bzw. Senate) für die richterlichen Geschäftstätigkeiten im Voraus, vollständig, schriftlich und abstrakt-generell nach objektiven Kriterien festgelegt sein. Die Geschäftsverteilungspläne werden jährlich jeweils vor dem Beginn eines Geschäftsjahres für dessen Dauer vom Präsidium des jeweiligen Gerichts in Ausfluss der gerichtlichen Selbstverwaltung aufgestellt und beschlossen.
Die Einsichtnahme ist für den Bereich der Zivil- und Strafgerichte, der so genannten ordentlichen Gerichtsbarkeit, in § 21 e Abs. 9 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) bzw. für die Geschäftsverteilungspläne der jeweiligen Spruchkörper in § 21 g Abs. 7 i.V.m. § 21 e Abs. 9 GVG geregelt. [Während der Verfasser (rbk) vor einigen Jahren selbst noch problemlos Einsicht nehmen konnte, damals im 6. Stock des AG München in der Pacellistraße 5, wurde dies offenkundig zunehmend und grob rechtswidrig erschwert.]
Strafrichter Schmitt unterbrach für eine halbe Stunde und erklärte dann, er werde gerne die Verhandlung unterbrechen und vertagen, damit ggf. die Einsichtnahme nachgeholt werden könne. King bot an, man könne den Antrag vorerst zurückstellen, erst einmal verhandeln und dann später weitersehen. So kam es dann auch.
Erster aufgerufener Zeuge war der vermeintlich Geschädigte, sprich Beleidigte. Er war zugleich Gruppenführer von drei anderen Polizisten, die zur Beweissicherung eingesetzt waren, zwei dieser anderen folgten als weitere Zeugen. Bei seiner Schilderung räumte er ein, wie später die anderen beiden auch, dass der Arm von Dr. King nicht exakt horizontal gerade nach vorne ausgestreckt war, sondern dabei auch sichtlich etwas nach oben gerichtet war. Dies war also für das Gericht damit in Übereinstimmung zu bringen, dass der Mittelfinger eben wirklich auf die ausgefahrene Videokamera oberhalb des Daches des Polizei-Überwachungssprinters gerichtet war, wie Dr. King sich zuvor zur Sache eingelassen hat.
Die zwei späteren Zeugen sagten zudem aus, dass King gleich bei der Personalienfeststellung nach der Mittelfingergeste und erfolgter Belehrung und Vorhaltung der Straftat Beleidigung, den beiden gesagt habe, die unfreundliche Geste hätte nicht ihrem Kollegen gegolten, sondern der Videokamera auf dem Fahrzeugdach, und zwar wegen der offenkundigen Unrechtmäßigkeit ihres Einsatzes. Dies erhöhte die Glaubwürdigkeit und sprach gegen eine lediglich später ersonnene Schutzbehauptung.
King fragte den Gruppenführer, dessen drei disziplinarische Untergebene eine Fotokamera und eine händische Videokamera mitgeführt hatten, ob er selbst versammlungsrechtlich geschult sei und ob er seine Untergebenen geschult habe, was dieser bejahte.
Die Frage, ob remonstriert worden sei, die er allen drei Bereitschaftspolizisten (ggf. sogar USK) bei der Zeugenbefragung im Kreuzverhör stellte und die die aus seiner Sicht untersagte anlasslose Videographierung des Versammlungsumzugs sowie die nicht nach unten gerichteten Hand-Kameras als Hintergrund hatte, wurde von allen verneint.
Schon nach dem ersten Zeugen (dem „Geschädigten“) regte der Strafrichter Einstellung an, die Dr. King aber ablehnte, er wollte zum einen einen Freispruch, zum anderen auch weitere Zeugenaussagen protokolliert haben, weil er wegen des grundrechtsverletzenden Videokameraeinsatzes einer offensichtlich friedlichen Versammlung entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von exakt 15 Jahren vor dem Umzug (also vom 17.2.2009) eine eigene Klage beim Verwaltungsgericht erhoben hat.
Und dieses Beharren lohnte sich. Die Zeugen Nummer 4 und 5 waren aus dem Innendienst. Der erste war für die Verarbeitung aller Videos und Fotos zuständig. Er sagte aus, er habe das Video des Überwachungsfahrzeugs nach ca. zwei Wochen gelöscht, da es keine Straftaten gezeigt habe. King hielt ihm vor, er habe es also gelöscht, obwohl er von der Beleidigungsanzeige des Kollegen wusste, und obwohl vom Aufnahmewinkel her er, King, darauf zu sehen gewesen sein musste, und zwar in ihn bzgl. des Beleidigungsvorwurfs womöglich entlastender Weise. Der Zeuge druckste nur herum und wollte sich bzgl. des Aufnahmewinkels schlicht nicht äußern oder gar festlegen. Auf die weitere Frage, ob Löschprotokolle vorgeschrieben seien, antwortete er bestätigend. Die Folgefrage, ob es demnach ein solches Löschprotokoll diesbezüglich gebe, verneinte er hingegen. Er konnte oder wollte nicht erklären, warum er angeblich ein strikt vorgeschriebenes Löschprotokoll nicht angefertigt habe.
Zeuge Nummer 5 gab kund, er habe selbst den Kollegen während des gemeinsamen Dienstes einmal bzgl. des Löschprotokolls gefragt und habe sich sehr darüber gewundert, als dieser ihm antwortete, er habe keines erstellt.
Nach Ende der Beweisaufnahme wollte Schmitt nochmals per Vertagung die Möglichkeit geben, die Einsichtnahme in den Geschäftsverteilungsplan nachzuholen. Dr. King meinte, es sei natürlich jetzt eigentlich schon zu spät, da das ja vorab hätte ermöglicht werden müssen. Er regte ein Rechtsberatungsgespräch an. Dieses erfolgte im Richterzimmer ihm Beisein der Staatsanwaltschaft. King zog anschließend seinen Antrag zurück und es konnte weitergehen.
Die Referendarin hielt zunächst ihr Plädoyer und forderte 50 Tagessätze zu 100 Euro, bzgl. der Höhe habe man schätzen müssen, da der Angeklagte sich zu seinen persönlichen Verhältnissen nicht geäußert habe. Sie meinte, die Verhandlung habe den Tatverdacht erhärtet.
Dr. King konterte in seinem Plädoyer und zugleich letzten Wort als Angeklagter souverän. Er führte nun auch geometrische Überlegungen aus, wonach durch die Armhaltung völlig klar sei, dass die Geste nur der erhöhten Kamera gegolten haben könne und dass ein Polizeibeamter, den er nicht einmal bewusst wahrgenommen habe und der zufällig in etwa in der gleichen Richtung stand, daran nichts ändere. Wie sollte er das denn verhindern, wenn er die bewusste Protestgeste als gesellschaftskritische Kritik habe anbringen wollen? Dann fragte er die Staatsanwältin, ob sie einen Polizeistaat wolle? Auf den Tag genau 15 Jahre nach dem Verdikt durch Karlsruhe habe der Freistaat Bayern durch den letztlich verantwortlichen Innenminister Joachim Herrmann klar gemacht, dass die Uhren hier anders ticken und man sich über verbindlich geltende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Bayerischen Polizei ungeniert hinwegsetze und dies auch so beibehalten wolle.
Er meinte u.a. dies: Es darf nicht durch bedrohlich wirkendes Filmen potentiell Angst bei Versammlungsteilnehmern erzeugt werden, so dass sie eingeschüchtert ihr Grundrecht auf Versammlungsfreiheit nach Artikel 8 des Grundgesetzes lieber gar nicht erst ausüben. Dies und mehr folgt aus BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 17. Februar 2009 – 1 BvR 2492/08 (http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv122342.html). Darin heißt es u.a.:
„Übersichtsaufzeichnungen sind danach nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass von der Versammlung erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgehen. Im Ergebnis können bei Versammlungen, von denen nach diesen Maßstäben eine Gefahr ausgeht, mittels Übersichtsaufzeichnungen auch die Bilddaten von rechtstreuen Versammlungsteilnehmern erhoben werden. Dies bleibt ein gewichtiger Nachteil, ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes jedoch im Respekt vor dem Gesetzgeber hinzunehmen. Durch die einstweilige Anordnung ist jedoch sicherzustellen, dass Teilnehmer nicht fürchten müssen, ihre Teilnahme werde über die konkrete Versammlung hinaus anlasslos festgehalten, und dass die Daten nicht für Zwecke genutzt werden, die mit der Versammlung in keinem Zusammenhang stehen. Es ist deshalb anzuordnen, dass eine Auswertung der Daten unverzüglich zu erfolgen hat. Soweit die Daten nach dieser Auswertung nicht in Bezug auf einzelne Personen zur Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit der aufgezeichneten Versammlung oder zur Abwehr künftiger versammlungsspezifischer Gefahren nach Maßgabe des Art. 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BayVersG benötigt werden, müssen sie spätestens innerhalb von zwei Monaten gelöscht oder zumindest irreversibel anonymisiert werden.“
(siehe aber auch: https://www.versammlungsrecht.org/stationaere-videoueberwachung-bei-versammlungslagen/)
Der Gruppenführer, der nach seiner Zeugeneinvernahme noch als Zuschauer Platz genommen hatte, zusammen mit zwei Kollegen (nicht den anderen Zeugen), kam Dr. King in seinem letzten Wort gerade zupass. Die drei erhielten eine kompakte, prägnante „Lehrstunde“ in Versammlungs-, Polizei- und Verfassungsrecht und wirkten immer kleiner auf ihren Stühlen werdend.
Exkurs: RA Dr. Rudolf King hat zu der Strafverhandlung wegen angeblicher Beleidigung bewusst einen kleinen Strauß weiße Rosen mitgebracht, weil derselbe Strafrichter Schmitt während der Hochphase des grundrechtsverletzenden Corona-Irrsinns einen Angeklagten, dem vorgeworfen worden war, er habe in München durch die Überreichung von weißen Rosen (natürlich auch als mahnende Anspielung an die Widerstandsgruppe Weiße Rose während der NS-Zeit) an Polizisten gefährliche Körperverletzung begangen, verurteilt hatte. In einer Verhandlungspause kurz vor Ende der Verhandlung überreichte King die Rosen einer Zuschauerin, die erst kurz zuvor ihren 80. Geburtstag begangen hat.
Im Gegensatz zu diesem damaligen Skandalurteil agierte Schmitt am 1. Oktober 2024 professionell, fair sowie korrekt und fällte und verkündete das einzig richtige Urteil: Freispruch.
Und zwar einen Freispruch aus tatsächlichen Gründen. Es sei nicht zur Überzeugung des Strafrichters der Mittelfinger auf einen Polizeibeamten hin ausgestreckt worden, sondern wohl glaubhaft auf die erhöht angebrachte Videoüberwachungskamera auf einem polizeilichen Begleitfahrzeug.
Die Kosten des Verfahrens trage die Staatskasse.
Die Staatsanwaltschaft könne binnen Wochenfrist Berufung oder Revision einlegen.
Dann wurde die Sitzung geschlossen.
Vor dem Gerichtsgebäude gab es dann Glückwünsche von den Zuschauern, eine Sieger-Zigarre und ein Interview mit Helge von SpunktNEWS.
Dr. King meinte noch sarkastisch, wäre er verurteilt worden, hätte er gleichsam Rechtsgeschichte geschrieben: Er wäre dann der erste hierzulande gewesen, der wegen Beleidigung der Palantir-Überwachungssoftware (und -Infrastruktur) geworden, welche der Freistaat Bayern erworben hat.
Az. 842 Cs 232 Js 140608/24 (AG München) – Urteil vom 01.10.2024